17.12.2014

Verlauf I - Eine unerwartete Reise...

Mittlerweile wird es wieder kalt und dunkel. Eine gute Zeit, um vor dem Laptop zu sitzen und ein weiteres Kapitel über die letzten vier Jahre mit diesem täglichen Begleiter zu schreiben. Im Herbst 2010 hat dieser ganze Alptraum in seiner größten Intensität begonnen (vorher "öffnete er sich Stück für Stück" über ca. 3-4 Monate) und die Dämonen sind noch immer nicht verschwunden. Aber langsam fügen sie sich zu einem einzigen zusammen und ich finde Worte für das, was 37 Jahre lang erstarrt und zersplittert in mir schlummerte.

Der Titel dieses Kapitels ist nicht zufällig gewählt, weil einige Figuren und Ereignisse aus Tolkiens Welt von Mittelerde bzw. deren Verfilmung meiner Meinung nach metaphorisch sehr gut passen und mir eine Figur als imaginärer Beschützer in den dunkelsten Stunden geholfen hat. Ich werde mich also ab und zu auf einige Filmszenen aus der Trilogie beziehen. Eingefleischte Tolkien-Fans mögen mir bitte verzeihen, dass ich mich nur auf die Filme und nicht auf die Bücher beziehe ;) Auch mag es sein, dass ich einige Figuren oder Szenen nur oberflächlich streife, aber es geht mir hier um die Illustration von Sachverhalten, nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung der Trilogie.

Diese Störung, die ja gleichzeitig der Heilungsprozess ist, gehört für mich bei allem Leid, was ich die letzten vier Jahre zeitweise durchgemacht habe, zu den interessantesten Phänomenen, was das Gehirn zu leisten vermag. Der oft unberechenbare, aber doch in sich logische Rhythmus, den die Seele dabei "vorgibt", die Schutzfunktion der Abspaltung, das therapeutische Ingangsetzen dieses Verarbeitungsprozesses mittels Konfrontation, die Beobachtung durch ein "Ich", (was tief hinein in die philosophische Frage führt: Wer ist eigentlich dieses im Therapieprozess ansprechbar bleibende "Ich"?), die Identifizierbarkeit der traumatischen Zustände (also was ist einfach eine "normale" Stimmungsschwankung und was ist ein traumatisches Wiedererleben?), das alles sind sehr faszinierende Vorgänge. Da ich mich sowieso nicht wirklich gut von diesen Erlebniswelten distanzieren konnte, also sehr oft vom Bann des Traumas eingenommen wurde, war mein Weg wohl die "Erforschung" dessen, was da in meiner Seele vor sich ging.

Um es mit den Figuren aus "Herr der Ringe" zu illustrieren, verwandelt sich das Trauma vom Ausbruch dieser Störung zum Ende hin vom Balrog von Morgoth zum Hexenkönig von Angmar. Weniger metaphorisch: Am Anfang ist es unfassbar, überwältigend, riesig und namenloses Grauen - sehr stark im Körper spürbar... die Zustände sind "hart" und "kalt", aber auch irgendwie noch "weit weg" vom "Ich". Um in der Szene des Kampfes zwischen dem Balrog und Gandalf zu bleiben: Manchmal wird man auch in die Tiefe gerissen, aber man überlebt und - um im Bild zu bleiben - danach ist man ein kleines Stückchen weis(s)er... und das Trauma kommt am hellen Licht des Ichs nicht vorbei. Zum Ende hin wird es tatsächlich thematisch immer wesentlicher, ekliger, konkreter, komplizierter und "bedrängt" das "Ich" stärker -  eher im Kopf verortet - es wird immer "anspruchsvoller" und die Zustände "wärmer" und "atmosphärischer". Sie haben oft auch nicht mehr so scharfe Grenzen.
Der Fürst der Nazguls ist also gerade mein "Endgegner" und es hilft mir, diesem Dämon der Dunkelheit, der mich im Moment fast permanent belästigt und versucht, mich mit seiner wankenden Normalität zu verhexen, eine konkrete Form zu geben. Seine seltsame Stimme im Film, das giftige Schwert und die Tatsache, dass er der Herr der Ringgeister (= traumatische Fragmente) ist, ist für mich eine sehr passende Symbolik. Im Moment sind es sehr häufig schwarze Nebel und seltsame Schleier, die mich bedrängen. Es fühlt sich an wie der "Vollkontakt" mit dem ganzen traumatischen Material. Nicht mehr auf einem Angstlevel von 10, sondern eher 1-2, dafür aber fast permanent.

Ungefähr die ersten zweieinhalb Jahre kamen die Fragmente einzeln (also nur Erstarrung oder Lähmung oder Panik oder Verzweiflung etc.) und relativ "scharf abgetrennt" von der restlichen Persönlichkeit an die Oberfläche. Das heißt: plötzlicher Beginn und Ende (entweder spontan oder Muskelzucken oder Weinen), sehr intensiv und dann war (meistens) wieder "Ruhe". Allerdings gibt es da auch noch drängende Gedanken und Gefühle, die nicht mit so viel Angst einhergehen, die aber trotzdem sehr unangenehm und nicht kontrollierbar sind. Wenn dieser Prozess einmal in Gang gesetzt ist, poltert alles unsortiert heraus wie aus einem überfüllten Bücherregal. Und jedes Buch will angeschaut und neu einsortiert werden. Dann fällt es manchmal wieder heraus und man muss sich nochmal bücken ;)
Die Phase der ersten zwei Jahre (vor allem nach Abbruch des Studiums) war für mich sehr dunkel und es gab und gibt immer noch Momente, wo ich dem Trauma unterliege, es also so stark drängt, dass ich die "geplante Aktion" nicht ausführen kann. So war es manchmal einfach nicht möglich, die Wohnung zu verlassen, weil die Lähmung einfach zu stark war. Dazu passt der Kampf mit dem Balrog atmosphärisch sehr gut. Riesiger Dämon, mächtig, umgeben vom dunklen Feuer, haust in den dunklen Minen, reißt Gandalf (meine Schutzfigur) in die Tiefe, obwohl man ihn schon besiegt glaubte... So fühlte sich das oft an in den letzten Jahren: Man glaubt, man hat gesiegt und dann kommt der feurige Dämon wieder, der sich aufbäumt und man muss sein helles Licht wieder entzünden, damit die Hoffnung nicht ganz erlischt.
Zu Beginn dachte ich noch (und ich glaube, so denken viele Nichtbetroffene über eine Angststörung), am Anfang ist alles ganz heftig und dann flaut die Intensität der Angstzustände nach und nach relativ linear ab. Leider weit gefehlt... und ich glaube, das hat einen Großteil meiner Frustration über diesen Prozess ausgemacht und mich auch nach drei Jahren (Winter 2013 / 2014) in eine suizidale Krise getrieben. Das Erregunsgslevel war - wenn man eine Skala von 0-10 ansetzt, in den ersten sechs bis acht Wochen bei 12 (am Anfang scheint es normal zu sein, dass man die absolute Hölle durchmacht) und dann baut sich jedes Thema über Wochen bis auf ein Level von 10 auf (bei mir drei Jahre lang). Dieser Peak wird ungefähr in der Mitte des jeweiligen Themas (man könnte es auch "Level" oder "Schicht" nennen) erreicht und da gibt es dann diese Tage und Momente, wo man dem Trauma unterliegt. Danach flaut das Thema ab und das nächste baut sich auf. (Allerdings darf man das nicht so verstehen, dass ausschließlich Fragmente aus diesem Thema auftauchen, dazwischen blitzen immer wieder andere auf oder neue "kündigen sich schon mal an". Aber ein Thema ist immer dominant.) Das bedeutet, dass ich - wider Erwarten - noch letzten Herbst (also nach über drei Jahren) mit Todesangst, Herzrasen und entsetzlicher Hilflosigkeit auf einem 10er - Level im Bett lag. Aber das schien das letzte Mal in dieser Intensität gewesen zu sein, denn an dem Tag hatte ich den Eindruck, fast alle Fragmente (später kamen noch einige hinzu), die ich vorher "kennengelernt" hatte, zeigten sich hintereinander, es "riss" also quasi "komplett auf". Ich brauchte ungefähr sechs Stunden, bis ich wieder einigermaßen klar denken konnte. Danach kam die Phase, in der sich die Fragmente von der Intensität her abschwächten, aber dafür verdichteten. Also nicht mehr 2-5 heftige Zustände am Tag, sondern 10-20, die fast jede Stunde auftauchten, auch in der Nacht. Also wieder vier Wochen lang nicht richtig schlafen können, immer wieder hochschrecken, den dunklen Winter meistern, Tag und Nacht Stalking durch das Trauma... das war die Phase, wo ich Kraft und Lebensmut verloren habe. Seitdem verdichteten sich die Fragmente weiter und es gab kaum Ruhe oder Ablenkung. Im Juli war ich auf einem Sommerfest, auf dem ich mich "eigentlich" ein wenig entspannen wollte. Leider wurde es ein ganzer Tag unter Dauerbeschuss mit einigen Sekunden von Ruhephasen... Als ich dann abends um 22:00 im Zelt lag, die Sommerabendluft riechen und die Sterne sehen konnte, gab die Seele endlich Ruhe und der Moment war einer der schönsten in diesem Jahr.
Der Leser kann sich vielleicht vorstellen, dass es sehr anstrengend ist, wenn man jahrelang täglich (und zu 80 - 90 % in Einsamkeit) kämpft und sich immer wieder unüberwindliche Wellenberge vor einem auftürmen. Konzentriertes, zuverlässiges Arbeiten war für mich nur sehr selten möglich. Das Problem bei dieser Störung ist auch, dass die Desensibilisierung nicht "aufeinander aufbauen" kann, weil die Themen wechseln und neue Anteile aus der Erstarrung kommen. Manchmal kam es mir vor wie ein Kampf mit der Hydra. Ist das eine Symptom "erledigt", tauchen zwei andere auf. Jetzt fühle ich mich nicht mehr ganz so hilflos wie vor einem Jahr, dafür muss ich mir 30mal am Tag die Hände waschen und kann nicht richtig essen. Es nervt! Ich konnte ein Jahr nach Ausbruch der Störung eine zweitägige Alpentour machen, aber im nächsten Jahr kaum noch einen Supermarkt betreten, weil das traumatische Thema "noch nicht an der Reihe war". Es ist unberechenbar! Man könnte auch sagen, die Seele ist sehr kreativ.

Ich konnte es am Anfang auch nicht so recht glauben, aber es ist im Rückblick tatsächlich so, dass man über einen sehr langen Zeitraum Level für Level aufsteigt wie bei einem Computerspiel... man wird immer besser, aber es wird immer anspruchsvoller. Schicht für Schicht, Thema für Thema "wird freigelegt". Immer mehr Teile des Traumas zeigen sich und fügen sich zusammen. Woran man das merkt? Das Körpergefühl ändert sich, wenn ein neues Level erreicht ist. Und jedes Level endete mit einer heftigeren Attacke, so als müsste es nochmal einen Punkt oder Ausrufezeichen setzen. Der Körper fühlt sich danach immer weicher und wärmer an, man friert nicht mehr so leicht, man fühlt sich ein wenig stärker, geistig beweglicher, präsenter, vollständiger. Die erstarrten Anteile lösen sich nach und nach aus dem unvollendeten Zustand, "reagieren sich ab", wollen verarbeitet werden und kommen zur Heilung.
Es ist wie eine Bugwelle aus Widerständen und Mauern aus Lähmung, die man vor sich herschiebt und die immer wieder ihre Richtung ändert. Auch dachte ich, dass diese ganzen Fragmente einfach völlig unsortiert und chaotisch auf einen einprasseln, aber ich konnte nach ca. drei Jahren doch ein einigermaßen logisches Schema erkennen: Am Anfang stehen eher die lähmenden Anteile wie Entsetzen, Erstarrung, Schutzlosigkeitsgefühle, dann (nach ca. zwei Jahren) tauchen die panischen Anteile wie Erstickungsgefühle, Zittern, Herzrasen auf und danach die "Post-Erregungs-Symptome" wie Übelkeit, Erschöpfung, Schmerzen usw. Natürlich nicht alles ausschließlich und völlig sortiert, aber jedes Thema drängt sich über Wochen "in den Vordergrund" bis es wieder abflaut. Interessanterweise zeigt sich nicht nur auf dieser Ebene des "Big picture" ein logisches Schema, sondern auch auf der täglichen "Mikro-Ebene": Wenn sich also nach einem vegetativen Reiz (z.B. Kaffeetrinken) kurz nach Ausbruch der Angststörung sehr schnell ein Symptom gezeigt hat, so "reagierten" die traumatischen Fragmente mit immer mehr Verzögerung und Veränderung auf diesen Reiz. Auch daran kann man den Fortschritt "ablesen". Und erst wenn sich alle Anteile aus dem Trauma gezeigt haben, hört es (vielleicht & hoffentlich) irgendwann auf, an die Oberfläche zu drängen.
Manche Fragmente brauchen nach einiger Zeit nochmal "einen Durchlauf" (nachdem sie auf "Standby" waren und verschwunden schienen), weil sie nach meiner Erfahrung noch nicht oft genug "angetriggert" wurden. Scheinbar hat jedes Fragment je nach Gewichtung der traumatischen Erfahrung eine bestimmte Anzahl an "Durchläufen", bis es Ruhe gibt. In einer relativ reizarmen Umgebung wechseln sich die einzelnen Fragmente scheinbar thematisch öfter ab, weil nicht ein Objekt im Vordergrund steht, was wiederholt ein bestimmtes Thema antriggert. (Zum Beispiel die Batterien, die immer wieder Vergiftungsangst auslösten.)
Manche Zustände brauchen fünf Minuten, manche Todesangst auch mal fünf Stunden, bis sie aufhören. Das bedeutet auch eine tägliche Neuverhandlung mit dem Trauma und den drängenden Gedanken. Erkläre ich dem Trauma zum hundertsten Mal, dass ich mir nicht zum zwanzigsten Mal die Hände waschen muss, um einmal ein Brot zu essen? Oder unterliege ich, weil es zu stark drängt? Mich hat das in letzter Zeit schon oft sehr frustriert, mit einem guten Hunger nicht zu Ende essen zu können, weil diese drängenden Gefühle, dass mit dem Essen "etwas nicht mehr stimmt" zu stark für mich waren.

Der Hexenkönig zückt sein flammendes Schwert und Gandalf unterliegt, aber er überlebt.